Sachsenheim Nah am Menschen: Die Familienherberge Lebensweg

Von Martin Hein
Unbeschwert spielen diese Geschwisterkinder vor der Familienherberge. Foto: /Oliver Bürkle

Vor fünf Jahren öffnete diese einzigartige Einrichtung in Illingen, die Familien mit schwerstkranken Kinder eine gemeinsame Auszeit ermöglicht. Seither wurden über 850 schwerstkranke Kinder mit ihren Familien dort betreut.

Kinderlachen empfängt Besucher beim Betreten der Familienherberge Lebensweg im Illinger Ortsteil Schützingen. Am Eingang stapeln sich Kinderschuhe, hier ist Leben, herrscht Fröhlichkeit.

Lara (Name von der Redaktion geändert) düst mit ihrem Rollstuhl zum Aufzug, ein anderes Mädchen flitzt hinterher. Der kleine Marc (Name geändert) kaut vergnügt an einer Holzfigur. Marc, der so herrlich lachen kann, hat das Down-Syndrom. In einem Raum ist Morgenkreis: Kinder und Eltern singen zusammen und haben dabei sichtlich Spaß. In einem Pflegezimmer liegt ein Kind in einem bunten Holzbett und wird beatmet. Fröhlichkeit und schwere Krankheit auf einem Fleck – eine ungewöhnliche Kombination in einer einzigartigen Einrichtung. Hier können Familien mit schwerstkranken Kindern unbeschwert und perfekt versorgt Energie für den oft kräftezehrenden Alltag tanken. Aber – der Reihe nach.

190 000 schwerstkranke Kinder

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes leben in Deutschland etwa 190 000 schwer mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche. In Baden-Württemberg sind es etwa 20 000 Familien. Hinter den Zahlen verbergen sich Einzelschicksale. Die Rund-um-die-Uhr-Betreuung eines solchen Kindes stellt die Familien vor große Herausforderungen.

Karin Eckstein aus Schützingen kennt diese Situation gut. Als Kinderkrankenschwester hat sie jahrelang im Olgahospital in Stuttgart gearbeitet. Nach einem Fernstudium folgte eine Ausbildung zur begleitenden Seelsorge und anschließend arbeitete sie in der häuslichen Kinderkrankenpflege. Bei ihrer Arbeit machte sie die Erfahrung, dass sich viele Familien mit schwerstkranken Kindern alleingelassen fühlten, oft zu zerbrechen drohen. Diese Familien hatten keine Möglichkeit auch nur für wenige Tage wie eine normale Familie zu leben oder einmal Urlaub zu machen. Eckstein hat der Frust dieser Menschen nicht mehr losgelassen. Für die meisten Familien kam es nicht in Frage, ihre Kinder in eine Kurzzeitpflege wegzugeben. Es müsse ein anderes Konzept geben, dachte sich Karin Eckstein.

„Das kranke Kind kommt mit und wird versorgt“, war ihre Idee 2009, die konkretere Formen annahm. Eine Einrichtung, in der Familien mit schwerstkranken Kindern Kraft schöpfen können, war das Ziel. Eckstein überzeugte ihre Eltern und Geschwister von der Idee. Gemeinsam brachten sie ein Familiengrundstück als Startkapital in die neu gegründete Familienherberge Lebensweg ein.

Ein Förderverein, der inzwischen mehr als 1000 Mitglieder zählt, wurde gegründet, Spenden gesammelt und ein modernes, auf die speziellen Bedürfnisse zugeschnittenes Gebäude errichtet. Im Mai 2018 war Eröffnung. In Deutschland gibt es nur zwei solcher Einrichtungen. Eine davon ist der Kupferhof in Hamburg, die andere die Familienherberge südlich von Häfnerhaslach. Seit der Eröffnung vor fünf Jahren konnten über 850 schwerstkranke Kinder mit ihren Familien sich regenerieren und neuen Lebensmut schöpfen. Die Familien kommen aus ganz Deutschland und sind in der Regel zwischen sieben und 14 Tage hier. 60 hauptamtliche Mitarbeiter in Vollzeit und Teilzeit zählt das hoch motivierte Team der Familienherberge. Dazu gehören Kinderkrankenschwestern und Pfleger, Heilpädagogen, Heilerziehungspfleger sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Hauswirtschaftsbereich. Die schwerstkranken Kinder bekommen eine professionelle 24-Stunden-Betreuung. Das Betreuungsteam, zu dem auch Sozialpädagogen gehören, wird überwiegend über die Stiftung finanziert und kümmert sich hauptsächlich um die Eltern und Geschwisterkinder. Dazu gehören Bastelangebote. Auch Angebote für die Eltern sind je nach Bedarf möglich.

Für 2023 bereits komplett belegt

Aktuell werden sechs Kinder betreut. Bis zu neun Kinder könnten betreut werden, aber auch hier macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar, bedauert Karin Eckstein. Schöne Holzbetten, für die Bedürfnisse der kranken Kinder angepasst, stehen in den geräumigen Pflegezimmern. Die Wände sind bunt bemalt, Blumen an der Decke, ein Regenbogen an der Wand, alles mit viel Liebe zum Detail gestaltet. „Uns ist wichtig, dass es nicht wie ein Krankenhaus aussieht“, betont Karin Eckstein.

Der dringende Bedarf an Einrichtungen wie diese besteht: Die Familienherberge ist das laufende Jahr komplett belegt, erste Buchungen für 2024 liegen bereits vor. Eckstein ist ein Aspekt ganz wichtig: „Wir sortieren nicht nach Krankheit aus.“ Die Eltern und Geschwisterkinder sind für die Aufenthaltszeit in Hotelzimmern in der Familienherberge untergebracht. Unbeschwert können die Eltern mit den Geschwisterkindern, die oft hinter ihren schwerstkranken Geschwistern zurückstecken müssen, die Landschaft erkunden und Ausflüge nach Tripsdrill oder Maulbronn machen.

Die für den Aufenthalt in Schützingen notwendigen medizinischen Gerätschaften, wie etwa Beatmungsgeräte, bringen die Familien meist selbst mit. Das Pflegeteam braucht einen Vorlauf, um sich auf die schwerstkranken Kinder einzustellen. Ist ein Kind beatmet, müssen Fachkräfte bereitstehen, die die Geräte bedienen können. Im Vorfeld wird geklärt, ob spezielle Mahlzeiten zubereitet werden müssen und welches Bett das Kind braucht.

Das alles kostet viel Geld. „Wir wussten von Anfang an, dass wir defizitär bleiben“, sagt Karin Eckstein, „wir müssen immer abwägen, wofür wir Geld ausgeben“. Die Personalkosten werden zu rund einem Drittel aus Spenden finanziert.

Auffallend ist die positive Grundstimmung im Haus. „Es kommt immer etwas zurück. Man weiß, warum man das tut – es macht Sinn“, freut sich die Initiatorin der Einrichtung. Der Aufenthalt in der Familienherberge sei wie eine Kur. Ein Gedanke sei deshalb auch die Anerkennung als Präventivkur oder als familienunterstützte Reha. Man sei im Gespräch mit der Rentenversicherung und den Krankenkassen. „Wir wollen als Modellprojekt von den Krankenkassen anerkannt werden“, gibt sich Eckstein entschlossen. Dazu sei ein wissenschaftlicher Nachweis erforderlich.

Draußen auf dem geräumigen Spielplatz haben sich inzwischen die Kinder in der Sonne versammelt und spielen miteinander. Lara mit ihrem Rollstuhl mittendrin. „Es ist eine Freude, hier zu arbeiten“, sagt eine Betreuerin und lacht. Am Samstag, 6. Mai, feiert die Einrichtung ihr fünfjähriges Bestehen.

 
 
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