Stichwahl in Frankreich „Zwei Lager stehen sich gegenüber“

Von Claudia Mocek
Im ersten Wahlgang um das Präsidentenamt haben sich Emmanuel Macron und Marine Le Pen für die Stichwahl qualifiziert. ⇥ Foto: Bob Edme

Der Direktor des Deutsch-Französischen Instituts geht davon aus, dass Emmanuel Macron Präsident bleiben wird – aber es könnte knapp werden. Ein Blick ins Nachbarland.

Am Sonntag sind rund 49 Millionen Franzosen dazu aufgerufen, den neuen Präsidenten zu wählen. Bei der Stichwahl können sie sich entscheiden – zwischen dem amtierenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron und der Vertreterin der extremen Rechten, Marine Le Pen. Die BZ hat den Direktor des Deutsch-Französischen Instituts Ludwigsburg (dfi), Prof. Dr. Frank Baasner, um eine Einschätzung gebeten.

Nach 2017 kommt es erneut zu einer Stichwahl zwischen Macron und Le Pen. Was ist dieses Mal anders?
Prof. Dr. Frank Baasner: Die Verteufelung von Marine Le Pen als Rechtsextreme funktioniert nicht mehr. Klar ist, dass sie national-konservative Politik betreibt und auch radikale Vorschläge macht. Sie will keine Sozialleistungen für Ausländer. Sie will heraus aus europäischen Verträgen wie dem Schengen-Abkommen – aus der EU austreten will sie aber nicht. Das ist ein ziemlicher Widerspruch. Aber im Wahlkampf hat ihr in die Hände gespielt, dass mit Éric Zemmour ein Rassist angetreten ist. Da stand sie politisch plötzlich ziemlich in der Mitte. Im ersten Wahlgang sind die Bürgerlichen und die Sozialisten eingebrochen, das waren schon tektonische Verschiebungen.

Mit welchem Ergebnis rechnen Sie?
Ich rechne damit, dass Macron gewinnt. Aber ganz sicher kann man sich nicht mehr sein. Alle Umfragen sehen ihn vorn – mit mehr oder weniger großem Abstand. Aber es gibt viele unentschlossene Wähler, die noch gar nicht wissen, ob sie überhaupt wählen gehen. Sie könnten die Wahl am Ende entscheiden.

Unterscheidet sich die Stimmung in Paris von der auf dem Land?
Ja, Studien belegen, dass es nicht mehr nur noch die Opposition zwischen Links und Rechts gibt. Ein Teil der Bevölkerung ist besser ausgebildet, bekommt ein höheres Gehalt und ist auch sehr viel urbaner unterwegs – diese Menschen haben keine Angst vor der Globalisierung. Auf der anderen Seite haben wir diejenigen mit geringeren Bildungsabschlüssen, einem geringeren Verdienst, die entfernter von den globalen Zentren leben und Verlustängste haben. Sie bedauern, dass es das schöne alte Frankreich nicht mehr gibt. Das sind die zwei Lager, die sich in Frankreich gegenüberstehen.

Im ersten Wahlgang haben die traditionellen Parteien deutlich verloren. Über 60 Prozent der Stimmen gingen an extreme Seiten. Welche Entwicklung zeichnet sich da ab?
Es gibt ein Misstrauen gegenüber dem System, die 60 Prozent sind Systemkritiker, die Dinge nun völlig anders machen wollen. Eine solche Entwicklung gab es auch in Italien mit der Lega Nord und der Fünf Sterne-Bewegung. In Deutschland haben wir diese Polarisierung in dieser Form noch nicht. Aber das heißt nicht, dass das nicht auch noch kommen kann.

Welchen Einfluss hat das Wahlsystem in Frankreich?
Das Mehrheitswahlsystem zwingt nicht zur Koalitionsbildung. Das ist in Deutschland anders, hier müssen die Grünen jetzt eben auch Kröten schlucken und gleichzeitig können sie Sachen anders machen. Und sie machen Sachen ja auch anders. Das ist bei unserem Wahlsystem vielleicht nicht so riskant.

Wenn Macron am Sonntag gewinnt, wie wird seine Politik aussehen?
Seine Bilanz, wenn man die Wirtschaftszahlen anschaut, ist sehr gut. Das geht im Moment völlig unter. Es gibt weniger Arbeitslosigkeit und so viele Ausbildungsverträge wie nie – durch klare politische Maßnahmen von Macron. Das wird er weiterhin so umsetzen. Außerdem wird er eine deutlich klimaorientiertere Politik machen als bisher, um die Themen zu besetzen und junge Wähler zu bedienen. Auch auf europäischer Ebene wird er darauf drängen, dass man den Green Deal, der schon beschlossen ist, auch wirklich umsetzt.

Wird er seine sozialen Ansätze aufgeben?
Wenn man von ein paar Dingen absieht, ist er so liberal gar nicht gewesen. Den Bezug des Arbeitslosengeldes, der sehr komfortable war, hat er zum Beispiel etwas reduziert, um Leute in Arbeit zu bringen und interessanter Weise hat das geklappt. Das war als Maßnahme schon richtig. Er hat aber auch soziale Wohltaten verteilt. Jetzt gibt es diesen Scheck für Energie, der direkt an die Haushalte ausgezahlt wird. Der gesetzliche Mindestlohn wurde deutlich erhöht. Es ist nicht so, dass er nichts gemacht hätte. Aber im Vergleich zu Marine Le Pen verspricht er den Menschen weniger.

Was verspricht Le Pen?
Sie hat Riesenpläne. Sie will etwa die Grundlebensmittel von der Mehrwertsteuer befreien. Das geht sehr weit und dazu braucht sie sehr viel Geld. Aber das hilft natürlich den Menschen, die jeden Cent umdrehen müssen.

Macron ist ein Verfechter Europas. Le Pen möchte die integrierte Kommandostruktur der Nato verlassen. Zwei gegensätzliche Entwicklungen. Befürchten Sie eine Spaltung?
Das ist schon ein kritischer Punkt. 2017 hat sich Le Pen mit der Forderung, aus dem Euro und der EU auszusteigen, keinen Gefallen getan. Das wollten die Franzosen nicht. Bei ihr geht nationales Recht vor Europarecht. Es gibt ein großzügiges Gesundheitssystem, das auch für illegale Einwanderer gilt und das sie abschaffen will. Sie will aus allen Strukturen heraus, in denen gemeinsam entschieden wird. Sie will schon in in der Nato und in der EU bleiben, aber sie will sich nicht zwingen oder überstimmen lassen. Sie will die nationale Selbständigkeit bewahren und gleichzeitig die Vorteile der gemeinsamen Institutionen nutzen.

Angehörige des Militärs finden diese Einstellung gut.
Das sind alte Gaullisten, die weiterhin dem Traum anhängen, selbst eine militärisch relevante Macht zu bleiben. Das können wir uns in Deutschland kaum vorstellen, weil wir hier ganz anders aufgestellt sind. Die Franzosen haben eine Armee, die sehr schnell einsetzbar ist. Emmanuel Macron könnte zum Beispiel sagen: Gestern sind wir in Mali einmarschiert. Das können wir nicht. In Deutschland gehen wir ins Parlament und diskutieren. Als Militärmacht hat Frankreich ein völlig anderes Selbstverständnis als Deutschland. Das ist in Frankreich aber auch nicht umstritten, Militärs haben ein gutes Image in Frankreich.

Welchem Kandidaten spielt der Ukraine-Krieg mehr in die Hände?
Anfangs war das ganz klar Macron, der als Macher aufgetreten ist. Das ist ein Reflex: Wenn Krisen auftreten, vereint man sich hinter der Fahne. Und Macron war präsent und hat am Anfang in der Wählergunst stark zugelegt. Dann gab es eine Abnutzung. Anders als in Deutschland ist die Ukraine für Frankreich jetzt weiter weg als Mali.

Woher kommt das?
Frankreich hat immer eine sehr emotionsfreie geostrategische Diskussion geführt. Hinzu kommt seit Charles de Gaulle auch die Überzeugung, dass Frankreich sein Verhältnis zu Russland definieren muss. Bei uns wird die Diskussion ja sehr emotional geführt. Die Nachrichtenlage zum Ukraine-Krieg ist dieselbe, aber wenn man in Frankreich mit Nachbarn spricht, ist das Thema nicht so präsent wie in Deutschland. Politisch hat Frankreich das Verhältnis zu Russland immer sehr realpolitisch betrachtet, dabei aber nicht diese seltsame Nähe zu Russland entwickelt, die in Deutschland bei manchen auffällig ist.

Wie ist es derzeit um die französische Identität bestellt?
Das Gefühl, das Frankreich nicht mehr das ist, was es mal war, ist stark entwickelt. Le Pen versucht den Franzosen das Gefühl zu geben, dass sie ihr Leben nicht ändern müssten. Macron sagt, wir müssen uns neu erfinden, wir können uns nicht auf dem ausruhen, was früher einmal schön war.

Wie wird die Stimmung am Sonntag sein?
Es wird sicherlich Wahlpartys geben. Aber eine hysterische Stimmung erwarte ich nicht. Die Wahlbeteiligung wird hoffentlich nicht ganz so niedrig sein, man rechnet mit 75 Prozent, das wäre schon ganz in Ordnung – auch wenn dann jeder vierte nicht wählen geht.

Hat Corona die Wahl beeinflusst?
Corona ist fast kein Thema mehr in Frankreich. Die Wirtschaft spricht natürlich von den Folgen, die Vertreter tragen aber auch die Gehaltserhöhungen mit. Die großen Verbände haben klar Position bezogen: Das Programm von Madame Le Pen wäre fatal.

Wie geht es nach der Wahl weiter?
Ich bin gespannt auf die Parlamentswahlen im Juni. Egal, wer dann die Regierung bildet, sie muss eine Mehrheit haben, sonst wird es schwierig. Und das wird nicht einfach – weder für Macron noch für Le Pen.

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